Prof. Dr. Wu Jie – Unternehmertum mit chinesischen Charakteristika
Wu Jie, Prof. Dr. für Digitale Medien an der Tongji Universität Shanghai
Die Jahre, die Jürg Neuenschwander hauptsächlich in China verbrachte, waren die Jahre nach den Olympischen Spielen, die einen Wendepunkt in der Beziehung mit dem Westen markierten: Es ging nicht mehr um den einfachen Import von Technologie, sondern um Zusammenarbeit, und es ging auch nicht mehr um komplettes Shanzhai, also Kopieren, sondern um eine Optimierung von Funktionalitäten. Es war auch nicht mehr die Zeit, in der chinesische Marken aufgekauft wurden: Es war die Zeit, in der eigenständige chinesische Marken sich zu etablieren begannen. Jürg Neuenschwanders neuester Dokumentarfilm – The Chinese Recipe: bold and smart – dokumentiert genau diese Veränderungen.
Der Film beschäftigt sich mit Unternehmertum. Er seziert das Leben von Menschen aus drei Generationen und deren Vision für die Zukunft: Er beobachtet einen nach 1950 geborenen Ingenieur, der nach den schwierigen Jahren erfolgreich die Wende schafft und ein schweizerisch-chinesisches Joint-Venture, eine Firma für Futtermittelproduktion, gründet; einen nach 1970 geborenen Kleinunternehmer, der mehr oder weniger notgedrungen begann, Audio-Equipment herzustellen, und nun in diesem Beruf voll aufgeht; und nach 1990 geborene Maker, die voller Optimismus ihre Chance ergreifen wollen und in ihrem Start-up eine Drohne entwickeln.
Der Regisseur erfasst mit seinem sensiblen Blick fast wie beiläufig auch andere Figuren aus dem Umfeld dieser drei Hauptpersonen: zum Beispiel einen Kunden der Futtermittelfabrik, der seinerseits erfolgreich im Business ist, oder die Mutter des Verstärkerproduzenten, die Reinigungskraft und Kassiererin in einer Person ist, oder internationale Kooperationspartner der im fernen Guiyang lebenden Maker, die von einem westlichen Techno-Idealismus und einer Philosophie des Teilens beseelt sind. Für einen Zuschauer, der nach 1970 in China geboren ist, erscheinen diese aus dem Leben gegriffenen Personen und ihr Umfeld gleichzeitig vertraut und fremd, weil sie in einem Dokumentarfilm auftauchen, der von einem Schweizer Regisseur mit profunder China-Erfahrung stammt.
Mit viel optimistisch gefärbter Empathie zeigt der Regisseur das ganz reale Leben von Chinesen, die in der vom Westen heftig kritisierten Shanzhai-Kultur des Imitierens zu Hause sind, die in China auf eine lange kulturelle Tradition zurückblicken kann. Die Frage, wie es im strengen westlichen Patent-System ein Weiterkommen geben kann, ist inzwischen nicht mehr bloß für China relevant, sondern eine, mit der sich alle innovativen Köpfe auseinandersetzen müssen. Wie dem auch sei: Es bildet sich gerade eine chinesische Gesellschaft heraus, die eine pluralistischere Werteorientierung aufweist, und diese Dokumentation eröffnet uns einen Blick auf ein Unternehmertum mit chinesischen Charakteristika.
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